Was bringt ein Embargo gegen russisches Öl und Gas?
In Deutschland wie auch im übrigen Europa bleibt der Druck hoch, die Einfuhr von russischem Öl und Gas zu verbieten. Doch ein Importstopp droht die hiesige Wirtschaft schwer zu schädigen, ohne dass damit ein Frieden in der Ukraine näherrückt.
Für viele Kommentatoren ist die Sache klar: Mit unseren Importen von russischem Öl und Gas finanzieren wir den Krieg Russlands. Also müssen wir Putin mit einem Energieembargo den Geldhahn zudrehen. Die ökonomischen Folgen eines solchen Energieboykotts für Deutschland und Europa werden dabei oft als beherrschbar oder aber als notwendiger Preis gesehen, den wir zu zahlen bereit sein müssten, wenn wir Putin stoppen wollten.
Aber stimmt das überhaupt? Im Folgenden wird zunächst untersucht, welche wirtschaftlichen Konsequenzen hierzulande mit einem sofortigen Embargo auf russisches Öl und vor allem Gas verbunden wären [1]. Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob und wie stark dieser Energieboykott den Krieg in der Ukraine beeinflussen könnte.
„Handhabbare“ oder „erhebliche“ Folgen? Ergebnisse von Modellrechnungen
Zur Frage der wirtschaftlichen Effekte eines schnellen Energieembargos gegen Russland gibt es mittlerweile verschiedene Berechnungen, die versuchen, auf Grundlage ökonomischer Modelle die komplexen Anpassungsprozesse zu simulieren, die von einem Ausstieg aus den russischen Energielieferungen ausgehen würden.
Die unter dem Namen „Bachmann-Studie“ bekannt gewordene Untersuchung von Rüdiger Bachmann et al. kommt zum Ergebnis, dass ein Lieferstopp russischer Energie zu einem Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,5 bis 3 Prozent führen würde. Zumindest einige der Autoren halten dies für einen verkraftbarer Einbruch. Sie forderten deshalb sofort, dass die Bundesregierung versuchen solle, Russland mit einem Energieembargo zu belegen.
Ein ähnliches Fazit präsentiert die Leopoldina, die nationale Akademie der Wissenschaften, in einer Stellungnahme: Sie vertritt die Ansicht, dass „auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre.“
Ebenfalls vergleichsweise optimistisch ist das DIW Berlin. Auf Grundlage eines wiederum anderen Ansatzes erwartet das DIW bei einem Embargo auf den Import russischer Energieträger in seinem Basisszenario, dass sich die BIP-Verluste über etwa 10 Jahre erstrecken, wobei ihr Höhepunkt nach 18 Monaten mit einem Minus von 3 Prozent erreicht werde.
Die Wirtschaftsforschungsinstitute der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose prognostizieren bei einem sofortigen Boykott der russischen Gaslieferungen in diesem Jahr nur noch ein Wachstum des BIP um 1,9 Prozent und im Jahr 2023 ein Sinken um 2,2 Prozent.
Diesen Ergebnissen wird vom IMK, dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, zu Recht widersprochen. Das IMK richtet seine Kritik vor allem gegen die erwähnte Bachmann-Studie, der wohl die meiste Aufmerksamkeit aller vier Untersuchungen zuteilwurde. So sei das von Bachmann et al. verwendete multisektorale Modell der offenen Volkswirtschaft (nach Baqaee und Farhi) zur Untersuchung der makroökonomischen Effekte eines Stopps der russischen Energieimporte auf die deutsche Volkswirtschaft ursprünglich für den Vergleich langfristiger Gleichgewichte in unterschiedlichen Handelsregimen entwickelt worden.[2]
Zweifelhaft sei damit, ob und inwieweit es überhaupt für eine vollständige Abbildung der kurz- bis mittelfristigen Folgen eines Importstopps geeignet sei. So werde von Anpassungskosten beim Wechsel von Produktionsfaktoren zwischen den verschiedenen Sektoren ebenso abstrahiert wie von kurzfristigen Verwerfungen bei der Nachfrage und an den Finanzmärkten. Dabei unterstellten Bachmann et al. unter anderem, dass es der Zentralbank möglich sei, die Inflation perfekt zu kontrollieren (eine zentrale Annahme der Bachmann-Studie ist, dass die Zentralbankpolitik einen Inflationsschub, der die Inflationserwartungen der Öffentlichkeit „entankert“, zielsicher verhindert).
Das Problem der Untersuchung bestehe darin, dass damit viele derjenigen Kanäle, die in den letzten Krisen von zentraler Bedeutung für Tiefe und Dauer des Wirtschaftseinbruchs waren, unberücksichtigt blieben. Das IMK verwendet deshalb zur Simulation des Szenarios eines plötzlichen Lieferstopps russischer Energie ein anderes Modell, nämlich NiGEM, ein umfassendes makroökonomisches Mehrländer-Modell des „National Institute of Economic and Social Research“, das eine große Breite beachteter und abgebildeter Wirkungskanäle aufweist. Aber selbst dieses Modell, das insgesamt deutlich besser zur Abschätzung der Konsequenzen eines Importstopps geeignet ist als das von Bachmann et al. verwendete Baqaee-Farhi-Modell, ist natürlich nicht „vollständig“: So werden etwa Kaskadeneffekte in Lieferketten – also Störungen bei der Produktion von Vorprodukten, die dann Produktionsausfälle in nachgelagerten Wertschöpfungsstufen auslösen können – nicht abgebildet.
Nach dem IMK hätte ein Lieferstopp für russische Energie erhebliche negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Gravierend wären insbesondere die Schäden durch den Wegfall von Erdgas. Im vom IMK verwendeten Modell läuft die Transmission über steigende Energiepreise, die einerseits zu Substitutionsprozessen führen und andererseits aufgrund von Realeinkommenseinbußen der Privathaushalte die Energienachfrage reduzieren. Im Hinblick auf Erdgas fragt also das Modell, welche Preisreaktion erforderlich wäre, um die Lücke zwischen der Gasnachfrage und den verringerten Gaslieferungen zu schließen. Oder vereinfacht gesagt: Wie stark müsste der Gaspreis steigen, damit die Nachfrage so weit zurückgeht, dass hierzulande kein russisches Gas mehr verwendet würde. Dazu IMK-Chef Sebastian Dullien gegenüber dem Handelsblatt:
„Die Auswirkungen wären so erheblich, dass das Modell keine stabilen Zahlen mehr produzieren kann.“
Simulationen mit dem NiGEM führen zum Ergebnis, dass selbst ein Anstieg des Gaspreises auf knapp 900 Euro je Megawattstunde – dies entspricht rund dem Vierfachen des bisherigen Rekordpreises – trotz sinkender Nachfrage kurzfristig noch nicht einmal die Hälfte der Versorgungslücke schließen könnte. Dennoch ergäbe sich bereits gegenüber dem vom IMK prognostizierten Basisszenario, das nur einen relativ moderaten Anstieg der Energiepreise und einen kurzzeitigen Wirtschaftseinbruch unterstellt, ein Rückgang des BIP um mehr als 6 Prozent. Die Folgen wären also dramatisch.
Insgesamt zeigen die Simulationsergebnisse auf Basis des vom IMK verwendeten NiGEM-Modells, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Lieferstopps russischer Energie unter Einbeziehung der Rückwirkungen über Nachfragekanäle, Finanzmärkte und der Reaktion der Notenbanken weit gravierender sein dürften, als vor allem die Bachmann-Studie vermuten lässt.
Das IMK weist jedoch zu Recht darauf hin, dass seine NiGEM-Simulationsergebnisse – ebenso wie die Resultate auf Basis der konkurrierenden Modelle – mit großer Vorsicht zu interpretieren seien. Denn zum einen seien die Veränderungen einzelner Einflussvariablen in der gegenwärtigen Lage besonders stark und zum anderen bleibe unklar, ob die bisherigen Wirkungszusammenhänge in außergewöhnlichen Situationen wie der aktuellen überhaupt stabil seien.
Dies gilt auch für die neueste, gerade erst erschienene Untersuchung der Deutschen Bundesbank, die sich ebenfalls mit den Konsequenzen eines sofortigen Energieembargos gegen Russland beschäftigt. Ihren „Simulationsrechnungen zu einem verschärften Risikoszenario“ zufolge könne der BIP-Verlust in Deutschland im laufenden Jahr bei bis zu 5 Prozent liegen.[3] Auch diese Verlustschätzung ist aber mit großen Unsicherheiten behaftet, da sich – wie die Bundesbank selbst einräumt – die Vielzahl der relevanten Wirkungskanäle in ihrer Komplexität in den verwendeten Modellen nur unzureichend abbilden lässt.
Es erscheint mithin sinnvoll, sich nicht allein auf unsichere Modellsimulationen zu verlassen, sondern die Folgen eines sofortigen Embargos insbesondere gegen Öl- und Gaslieferungen aus Russland für einzelne Branchen und die Gesamtwirtschaft in Deutschland „näher an der Basis“ zu betrachten.
Die Folgen eines Ölboykotts
Die Mengen an Öl und an Gas, die Deutschland bei einem Wegfall der russischen Importe zu ersetzen hätte, sind enorm: Rund 55 Prozent des Erdgases, das in Deutschland im Jahr 2020 verbraucht wurde, stammten aus Russland. Auch die Abhängigkeit bei Öl ist groß: Beim Ölverbrauch wurden im gleichen Jahr etwa 33 Prozent des deutschen Bedarfs durch russische Lieferanten gedeckt.
Das Problem beim Öl liegt vor allem im Osten Deutschlands: Große Teile Ostdeutschlands werden fast ausschließlich über Leitungen aus Russland versorgt. Ein Lieferstopp aus Russland würde deshalb den Osten deutlich stärker treffen als den Westen. Zu befürchten sind in einem solchen Fall Versorgungsengpässe bei Benzin, Diesel, Heizöl und Kerosin.
Die Abhängigkeit Ostdeutschlands von russischen Öllieferungen hat historische Gründe: Schon seit Ende 1963 transportiert die Pipeline Druschba („Freundschaft“) Öl aus dem Ural nach Schwedt im Nordosten Brandenburgs. In Schwedt werden rund 12 Millionen Tonnen Rohöl pro Jahr – und zwar ausschließlich russisches Öl – nicht nur zu Kerosin, Benzin etc., sondern auch zu Bitumen und Stoffen für die chemische Industrie verarbeitet.
Ein weiterer Teil des Öls fließt von Schwedt zur Weiterverarbeitung nach Leuna in Sachsen-Anhalt. Dort wiederum haben sich viele Chemiebetriebe angesiedelt, die Ölprodukte benötigen. Diese Industrie bildet bei vielen Produkten den Anfang der Wertschöpfungskette. Ein Produktionsstopp könnte daher einen Dominoeffekt auslösen und – jedenfalls zeitweise – zu Produktionsausfällen auch in anderen Branchen führen.
Andere Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass der Osten Deutschlands nicht an die übrigen Ölpipelines in Deutschland angebunden ist. Die Infrastruktur für Öllieferungen ist immer noch zwischen Osten und Westen geteilt. Während die Versorgung des Ostens über die erwähnte Druschba-Pipeline erfolgt, erreicht das Öl den Westen entweder über eine Pipeline aus Südeuropa oder über den Hafen von Rotterdam und anschließend via Schiffstransport auf dem Rhein. Da praktisch keine Pipelines zwischen Ost und West existieren, müsste das Öl umständlich und aufwendig mit Tanklastern oder Zügen aus dem Westen in den Osten geschafft werden.
Zwar gäbe es auch die Alternative, zwei Pipelines an der Ostsee – in den Häfen von Rostock und Danzig – zu nutzen. Dort ließe sich theoretisch Öl von Öltankern in die südlich gelegene Druschba-Pipeline pumpen. Für die Abfertigung großer Tanker ist der Hafen von Rostock jedoch nicht geeignet. Darüber hinaus ist nicht alles Öl gleich: Erdöl aus Russland, das einen hohen Schwefelgehalt aufweist, unterscheidet sich von der Zusammensetzung her von demjenigen etwa aus Saudi-Arabien. Die Raffinerie in Schwedt ist aber ganz auf russisches Erdöl eingestellt. Vermutlich würde deshalb eine aufwendige Umrüstung auf andere Ölqualitäten aus anderen Weltregionen erforderlich.
Aber selbst wenn sich Versorgungsengpässe weitgehend verhindern ließen, so wären (weiter) steigende Ölpreise in jedem Fall die unvermeidbare Folge eines Ölembargos. Und dies in einer Situation, in der ohnehin bereits viele Unternehmen und Branchen mit hohen Kosten für Kraftstoffe zu kämpfen haben.
Die Folgen eines Gasembargos
Weit größer als das mit einem Importstopp für russisches Öl wäre das mit einem Boykott von russischem Erdgas verbundene Risiko für die deutsche Wirtschaft. In Deutschland entfallen rund 37 Prozent des Erdgasverbrauchs auf die Industrie und 31 Prozent auf die privaten Haushalte. Für mehrere Industriezweige ist Erdgas von zentraler Bedeutung – als Energieträger für die Strom- und Wärmeerzeugung, aber auch als Grundstoff, beispielsweise in der Chemiebranche.
So ist die vom Handelsblatt zitierte Warnung Timm Kehlers vom Branchenverband Zukunft Gas durchaus ernst zu nehmen:
„Ein Stopp der russischen Gaslieferungen hätte weitreichende Sekundäreffekte. Viele der gasbasierten Prozessschritte sind elementare Bestandteile der deutschen Kernindustrien Fahrzeugbau oder Chemie. Ohne Gas für die Fahrzeug-Scheibenherstellung oder zur Lacktrocknung droht beispielsweise ein Stopp der Automobilproduktion.“
Dies lässt sich durch weitere Beispiele ergänzen:
- So benötigen Hochtemperaturprozesse in der Glas- und Keramikindustrie gleichbleibend viel Gas. Wenn etwa Glas-Schmelzwannen erkalten, kann dies wegen irreparabler Anlagenschäden für die betroffenen Unternehmen einen wirtschaftlichen Totalschaden bedeuten. Dazu kämen mögliche Kaskadeneffekte mit der Folge, dass in der Automobil-, Bau-, Lebensmittel- und Pharmaindustrie die Lieferketten gestört würden.
- Erdgas ist Grundstoff bei der Produktion von Ammoniak, das für die Düngemittelherstellung unverzichtbar ist. Fehlt Gas, so entsteht die Gefahr von Produktionsengpässen und Preissteigerungen in der Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung. Und nicht nur das: Ammoniak wird darüber hinaus zur Herstellung von Lösungsmitteln und von medizinischen Produkten verwendet; ein Teil fließt über die Harnstoffsynthese auch in die Produktion von AdBlue, das für die Reinigung von Dieselabgasen in Fahrzeugen benötigt wird. Generell braucht die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland mit jährlich rund 2,5 Millionen Tonnen sehr viel Ammoniak.
- In der Stahl- und Metallverarbeitungsindustrie wird Gas unter anderem verwendet, um Öfen zu beheizen, die für die Umformung von Metallen erforderlich sind, oder als Reduktionsmittel bei der Umwandlung von Eisenerz zu Eisenschwamm, der in Elektroöfen zu Stahl geschmolzen wird. Produktionsunterbrechungen hätten wiederum Auswirkungen auf viele andere Branchen, die Stahl und weiterverarbeitete Metallprodukte brauchen.
- In der Nahrungsmittelindustrie findet Erdgas beispielsweise im Antrieb von Getreide- und Ölmühlen oder beim Kühlen in Molkereien Anwendung. Bei fehlendem Gas wäre die Lebensmittelproduktion beeinträchtigt.
- In der Zellstoff- und Papierindustrie wird Erdgas unter anderem für die Trocknung von Papierbahnen genutzt. Ohne Gas könnten etwa bei Verpackungsmaterial (Tüten, Kartons) und Druckerzeugnissen (Zeitungen) rasch Engpässe auftreten.
Zwar kann Erdgas in Einzelfällen ersetzt werden, jedoch stehen oft Alternativen nicht zur Verfügung – und wenn doch, werden entsprechende technische Umrüstungen und behördliche Genehmigungen erforderlich (Letzteres beispielsweise dann, wenn in der Kalkindustrie Erdgas durch Braunkohle ersetzt werden könnte).
Ein sofortiges Embargo für russisches Gas hätte gravierende Folgen – für die deutsche Wirtschaft und für die europäische Wirtschaft insgesamt. Es wurde bereits festgestellt, dass im Jahr 2020 mehr als die Hälfte der Gasimporte Deutschlands aus Russland stammte. Was die Erdgasimporte der Europäischen Union (EU) betrifft, so entfielen davon im gleichen Jahr etwa 40 Prozent auf Russland.
Es ist eine Wunschvorstellung zu glauben, dass solch hohe Importanteile kurzfristig vollständig substituiert werden könnten, allein, weil weltweit die Produktion an den meisten Gasstandorten bereits (fast) an der Obergrenze angelangt ist. Möglich ist in kurzer Frist bestenfalls ein teilweiser Ersatz von russischem Erdgas, da alternative Erdgaslieferanten nicht über hinreichende zusätzliche Förderkapazitäten verfügen.
Wo gibt es Ersatz für die russischen Gaslieferungen?
Zwar haben die USA angekündigt, in den nächsten Jahren so viel Gas zu liefern, dass in der EU ein Drittel der Lieferungen aus Russland ersetzt werden könne. Doch erscheint eine kurzfristige Substitution russischen Gases durch verflüssigtes Gas (LNG) nicht nur aus ökologischer Sicht äußerst bedenklich, sondern aufgrund der begrenzten Transportkapazitäten illusorisch. So haben die USA derzeit nicht genügend Kapazitäten, um den LNG-Export spürbar zu erhöhen (einmal ganz abgesehen davon, dass das verflüssigte Erdgas aus den USA gegenwärtig etwa doppelt so teuer ist wie das russische Gas). Sie mussten zuletzt im Gegenteil Gaskäufer aus Asien bitten, ihre LNG-Tanker nach Europa umzuleiten. Auch das Angebot Kanadas, Flüssiggas als Ersatz für russisches Gas an Deutschland zu liefern, lässt sich erst im Winter 2024/2025 vollumfänglich realisieren.
Ebenso ist aus Europa selbst nur sehr begrenzt Hilfe zu erwarten: Die Niederlande können nicht einspringen, weil dort die Gasförderung in den letzten Jahren wegen Erdbebengefahr zurückgefahren wurde. Und Norwegen ist fast am Limit und kann nur noch kleine Mengen zusätzlich liefern.
Kritisiert wird häufig, dass Europa Kapazitätsengpässe in der Gasinfrastruktur aufweist, vor allem bei LNG-Terminals (Flüssiggasterminals), Rückvergasungsanlagen und Gasleitungen, über die sich das Gas innerhalb Europas verteilen lässt. In Deutschland, wo es bislang überhaupt keine eigenen LNG-Terminals gibt, sind gegenwärtig drei Terminals in Planung: in Wilhelmshaven, Stade und Brunsbüttel. Da sich die Planung, Genehmigung und Errichtung stationärer LNG-Terminals üblicherweise über mehrere Jahre hinzieht, sollen schwimmende Terminals (Spezialschiffe) als Übergangslösung fungieren.
Aber auch das wird nicht viel helfen. Die immer wieder geäußerte Hoffnung, die russischen Gaslieferungen nach Deutschland kurzfristig durch Flüssiggas aus anderen Ländern ersetzen zu können, ist unberechtigt, wie die beiden Flensburger Ökonomen Stefan Liebing und Kay Pfaffenberger zeigen. Nach Liebing/Pfaffenberger stammen von den jährlich rund 500 Milliarden Kubikmetern Gas, die weltweit derzeit zu LNG umgewandelt werden, etwa 40 Milliarden Kubikmeter aus russischen Verflüssigungsanlagen. Diese 40 Milliarden kommen natürlich für die Substitution russischen Pipeline-Gases nicht in Betracht. Es bleiben also theoretisch ca. 460 Milliarden Kubikmeter jährlich.
Das Problem ist nun, dass im LNG-Geschäft üblicherweise zwischen 80 und 90 Prozent der Mengen schon vor Baubeginn von Verflüssigungsanlagen in Langfristverträgen fest verkauft sind[4] (ohne diese Absatzsicherheit wäre die Finanzierung von so riesigen Investitionsvorhaben, wie sie Gasverflüssigungsanlagen darstellen, unmöglich). Es stehen also kurzfristig (für den Spotmarkt) nur 10 bis 20 Prozent von 460 Milliarden Kubikmeter zur Verfügung, mithin zwischen 46 und 92 Milliarden.
Deutschland bezieht gegenwärtig jährlich etwa 55 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland (2020: 56,3 Milliarden). Folglich müsste Deutschland fast die gesamten weltweit kurzfristig verfügbaren Mengen aufkaufen, um die Lieferungen Russlands komplett durch LNG zu ersetzen. Das ist eine absurde Vorstellung. Denn selbstverständlich sind auch viele andere Länder auf LNG-Spotmengen angewiesen.
Das heißt: Es ist schlicht nicht möglich, die Gaslieferungen Russlands – oder auch nur einen signifikanten Teil davon – in kurzer Frist durch LNG zu ersetzen. Bei einem völligen Stopp russischer Gaslieferungen müsste der Gasverbrauch in Europa erheblich gesenkt werden.[5] Die Folgen wären ein Einbruch der Wirtschaftsaktivität, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und ein nochmaliges kräftiges Anziehen der Inflation.
Die Auswirkungen eines Embargos auf Russlands Krieg
Nun bestreiten die Befürworter eines Boykotts von russischem Gas und Öl im Allgemeinen nicht, dass eine solche Maßnahme mit negativen wirtschaftlichen Auswirkungen verbunden wäre, halten diese aber für „handhabbar“ und/oder weisen darauf hin, dass Deutschland gar keine andere Wahl mehr habe. Die letztgenannte Position vertritt etwa Torsten Riecke in einer Pro- und Contra-Diskussion im Handelsblatt:
„Die entscheidende Frage ist spätestens seit Butscha nicht mehr, ob Deutschland es sich leisten kann, die Folgen eines russischen Öl- und Gasembargos auf sich zu nehmen. Es geht vielmehr darum, ob wir es uns leisten können, dies nicht zu tun. Deutschland darf Putins Kriegsmaschinerie auch deshalb nicht weiter finanzieren, weil es international seinen Ruf und damit auch sein wirtschaftliches Wohlergehen aufs Spiel setzt.“
Unterstellt wird hier also, dass Russland seinen Krieg mit den Erlösen aus den Energieexporten finanziert. Als Bundeskanzler Olaf Scholz bei „Anne Will“ behauptete, dass dies wegen der verhängten Sanktionen doch gar nicht mehr möglich sei, erntete er heftigen Widerspruch, nicht nur in der Sendung selbst. So argumentiert das Handelsblatt, dass die „Annahme des Kanzlers, dass aus den Exporterlösen keine militärischen Güter gekauft werden können, weil solche Geschäfte sanktioniert seien, […] allenfalls teilweise wahr [ist]. Denn längst nicht alle Länder beteiligen sich an den Sanktionen.“
Außerdem habe der Westen nur etwa 60 Prozent der Notenbankreserven Russlands eingefroren, so dass Russland immer noch über genügend verwendbare Notenbankreserven verfüge.
Es wird nicht recht deutlich, was hier gemeint ist. Die russische Regierung benötigt Devisen aus Exporterlösen, um den Ukraine-Krieg zu finanzieren, also Ausgaben für Soldaten, Verpflegung und vor allem Waffen tätigen zu können? Das leuchtet nicht ein. Zur Kriegsfinanzierung braucht Russland zunächst einmal Rubel. Und an Rubel besteht für den russischen Staat (mit der russischen Zentralbank als Schöpferin der Währung) kein Mangel. Da Russland ein Land mit einer souveränen Währung ist, kann dem russische Staat niemals „das Geld ausgehen“. Er kann für Rubel kaufen, was dafür angeboten wird, ohne von jemand anderem Rubel zu benötigen.
Wie andere währungssouveräne Staaten auch zahlt der russische Staat seine Rechnungen ganz einfach mit einer Reihe simpler bilanzieller Operationen: Will Russland beispielsweise von einem seiner rund 1300 Rüstungsbetriebe Waffen kaufen, dann nimmt die russische Zentralbank eine entsprechende Gutschrift auf das Zentralbankkonto der Geschäftsbank des Rüstungsunternehmens vor. Die Geschäftsbank schreibt dann einen Betrag gleicher Höhe auf dem Girokonto des Rüstungsbetriebes gut. Alle Staatsausgaben erfolgen letztlich auf diese Weise – durch Gutschriften auf Bankkonten. Die monetären Operationen, die damit einhergehen können (wie zum Beispiel die Emission von Anleihen), ändern nichts an der Fähigkeit eines währungssouveränen Staates, auf diese Art Ausgaben vorzunehmen.
Die Behauptung, dass wir mit unseren Zahlungen für russisches Gas und Öl den Krieg in der Ukraine finanzieren, ergibt allenfalls Sinn, wenn man unterstellt, dass Russland Devisen (die es durch den Export von Gas und Öl erhält) für den Import von Waffen benötigt, weil ein Großteil dieser Waffen eingeführt werden muss. Dies aber entspricht nicht den Tatsachen, wie ein Blick auf die Daten des SIPRI, des renommierten Stockholmer Friedensforschungsinstituts, zeigt. Die statistischen Daten des SIPRI zu Waffentransfers beziehen sich auf die Lieferungen größerer konventioneller Waffen und Komponenten. Das SIPRI hat ein spezielles Preissystem entwickelt, um das Volumen solcher Lieferungen in einer gemeinsamen Einheit zu messen, dem SIPRI-Trendindikatorwert (TIV, trend-indicator value). Unter Verwendung des TIV wird ein Vergleich zwischen den Daten zu den Transfers verschiedener Waffen zu oder von bestimmten Staaten ermöglicht (vgl. dazu ausführlicher Sources and Methods und Measuring International Arms Transfers).
Nach Berechnungen des SIPRI war Russland im Zeitraum 2017 bis 2021 nach den USA der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt (mit rund 19 Prozent der globalen Waffenexporte), taucht aber unter den 50 größten Waffenimporteuren weltweit nicht auf (siehe SIPRI Arms Transfers Database). Nimmt man das letzte einzelne Jahr, für das sowohl für Russland als auch die anderen Länder entsprechende Daten verfügbar sind, nämlich das Jahr 2018, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Russland ist auch hier der weltweit zweitgrößte Waffenexporteur, liegt aber in der Rangliste der größten Waffenimporteure der Welt nur auf Platz 53. Der Wert der Waffenimporte Russlands erreicht gerade einmal 0,7 Prozent des Wertes der Waffenexporte des Landes. Daraus lässt sich schließen, dass Russland bei der Versorgung mit Kriegsgerät als relativ autark einzuschätzen ist. Das Land benötigt also kaum Devisen, um für Waffeneinfuhren zu zahlen – und natürlich auch nicht, um Öl, Diesel und Kerosin für seine Streitkräfte zu kaufen.
Das Fazit ist klar. Wie schon an anderer Stelle gezeigt, ist die Vorstellung, mit einem sofortigen Boykott von Öl und Gas die russische Kriegsmaschinerie stoppen zu können, nicht nur falsch, sondern gefährlich. Denn den Krieg würde dies nicht verkürzen oder gar beenden, wohl aber die Gefahr einer schweren Wirtschaftskrise mit massiven und dauerhaften Folgen heraufbeschwören.